Systematische Theologie

Ed Shaw: Vertrautheit wagen!

Ed Shaw: Vertrautheit wagen! Gemeindebau hautnah. Und wie die Kirche sexuelle Vielfalt biblisch integrieren kann, Basel: Fontis-Verlag, 2018, Pb., 192 S., € 14,–, ISBN 978-3-03848-148-5


Dieses Buch ist ein etwas anderes „Comingout“. Der Verfasser ist Ed Shaw, Christ, Pastor der Church of England und seit seiner Pubertät homosexuell. Doch Shaw lebt seine sexuelle Orientierung aus theologischen Gründen nicht aus. Und das entgegen landläufiger gesellschaftlicher und mittlerweile teilweise auch kirchlicher Meinung. Das können selbst manche engen (christlichen) Freunde nicht nachvollziehen. Er stehe einem „Plausibilitätsproblem“ (25) gegenüber, schreibt Shaw. So lautet der Originaltitel des Buches „The Plausibility Problem“ (Nottingham: Inter-Varsity, 2015). Der Verfasser will den biblisch begründeten Lebensstil der Enthaltsamkeit wieder nachvollziehbar machen. Wie? Indem er neun gängige Argumente für ein Ausleben der Homosexualität in theologischer Reflexion als Fehlannahmen (FA) entlarvt. Ehrlich, sensibel und immer wieder mit Humor. Dabei bittet er die Gemeinde um Unterstützung. „Nicht die Theologie, sondern Menschen scheinen die Antriebskraft hinter der Ablehnung der traditionellen christlichen Ethik zu sein“ (21). Es gilt „was die Bibel klar verlangt, … wieder plausibel“ zu machen (25). Seit seiner Pubertät fühlt sich Ed Shaw zu Männern hingezogen. Warum? Verschiedene Erklärungsmodelle kann er für sich nicht heranziehen. Er „ist einfach so“. Freunde sagen ihm, wenn er so geboren sei, könne es doch nicht falsch sein (FA3). Doch nur weil man sie nicht ergründen kann, kann eine Empfindung nicht einfach als gut dargestellt werden. Auch entbindet sie nicht von verantwortlicher Lebensgestaltung, zu der Menschen durch die Gottebenbildlichkeit gewürdigt sind. Wir lesen in der Bibel vom Sündenfall, durch den vieles in der Schöpfung und damit auch unserem Leben in ungute Mitleidenschaft gezogen wurden. Der Fall und seine Folgen lässt uns auch unerklärliche Phänomene einordnen, und deshalb sollte dies in christlichen Gemeinden zur Sprache kommen. Nun „ist“ Shaw „homosexuell“. Doch die Gleichung „Deine Identität ist deine Sexualität“ schlägt ebenfalls fehl (FA1). Kein Mensch sollte durch Aspekte seines Lebens definiert werden (z. B. Erfolg, Alkohol, Beruf, Arbeitslosigkeit, Scheidung). Es gilt der Blick des Schöpfers: Der Mensch „ist“ Gottes Ebenbild (in aller Gebrochenheit). Shaw ist nicht zuerst ein Homosexueller. Als Mensch ist er Gottes Ebenbild, als Christ Gottes Kind (Joh 1,12). „[W]as mich in meinem Leben am stärksten definiert, ist nicht meine Sexualität, sondern mein Status – in Christus: als Kind Gottes“ (41). Ihm begegnete oft die Einstellung: Ein gottgefälliger Christ ist heterosexuell (FA7). Viele Jahre dachte er selbst so, betete um sexuelle Veränderung, die aber nicht eintrat. Ist damit der Wunsch, Gott zu gefallen, passé? Anhand Eph 5 legt er dar: Gottgefällig bedeutet, nach Christusähnlichkeit zu streben. Das will er in allen Bereichen seines Lebens tun. Für den sexuellen Bereich bedeutet dies auch, auf jede sexuelle Handlung außerhalb der Ehe zu verzichten, unabhängig, ob diese hetero- oder homosexuell ist. Shaw glorifiziert seinen alleinstehenden und sexuell enthaltsamen Lebenswandel keineswegs als „easy going“. Offen schreibt er über Reize im Internet, über die Anziehungskraft attraktiver Männer im Alltag und seine „Küchenbodenmomente“ (81), wenn ihn Traurigkeit und Schmerz überfallen, weil er die Erfahrung einer Liebesbeziehung und einer eigenen Familiengründung nicht machen wird. Eine enorme Hilfe ist ihm, die Gemeinde als Familie zu erleben. Denn eine Familie ist nicht nur die schöpferisch-biologische Konstellation von Vater, Mutter und Kind (FA2). Die Bibel lehrt uns auch, Familie geistlich zu denken: die Gemeinde. Und so investiert Shaw in intime (lat. intimus: vertraut) Freundschaften zu Männern und Frauen, jungen und alten Menschen in seiner Gemeindefamilie. Bei „intim“ denken wir schnell an Erotik und Sex (FA5). Das hat Auswirkungen bis in manche sexuelle Interpretation von 2Sam 1,26. Können wir nicht (mehr?) anders denken? Doch Vertrautheit ist nicht von Sex abhängig. Wo Gemeinden in familiäre Beziehungen und tiefe Freundschaften investieren, helfen sie Heterosexuellen wie Homosexuellen, Erfolgreichen wie Gescheiterten, Verheirateten wie Singles. Der Status der Singles werde oft als „vorübergehendes Problem“ gebrandmarkt, „das glücklicherweise von der Ehe gelöst wird“ (145, FA8). Doch der Theologe zeigt mit Rückbezug auf 1Kor 7, dass dieses Single-Branding weder im hetero- noch im homosexuellen Bereich angebracht ist. Schon gar nicht in der Gemeinde. Ist er „glücklich“? Um glücklich zu sein, so denken viele, muss Leiden umgangen werden (FA9). Doch er reflektiert, dass er an seinem „Leiden“ der sexuellen Orientierung und seiner Entscheidung, diese nicht auszuleben, charakterlich und geistlich auch gewachsen ist. Hat Gott aus dieser Schwäche des Sündenfalls (Kapitel 5) in anderen Lebensbereichen etwas Gutes gemacht (vgl. Gen 50,20)? Oder gehört sie gar zu Gottes Plan für Shaws Leben? Beides klingt an. Hier hätte ich mir mehr Klarheit gewünscht. Die Antwort auf diese Frage hat doch Auswirkungen bis ins Gottesbild hinein. Glück wurde jedenfalls als subjektiv definiertes Empfinden gesellschaftlich zur höchsten Autorität erklärt (FA4). Der Pastor plädiert für eine neue Autorität. Und das ist die alte: Gott selbst! Sein Wille macht glücklich. Das mag manchmal „zeitlich begrenztes Unglücklichsein“ (92) bedeuten, aber dauerhaftes Glück findet man nur im Gehorsam gegenüber Gottes Willen (Ps 19,8–12). Zu diesem gehört die klare Hinordnung der Ehe auf Mann und Frau. Hinsichtlich ihrer Würde des Menschseins und ihres Status als Gottes Ebenbilder sind Mann und Frau gleich. Wer daraus jedoch eine grundsätzliche Austauschbarkeit der Geschlechter macht, interpretiert fehl (FA6). Von Genesis (Adam – Eva) bis zur Offenbarung (Jesus – Gemeinde) bleibt die Verschiedenheit bestehen. Im Schöpfungsbericht lesen wir von der Polarität von Mann und Frau, die allein aufgrund des Schöpfungsauftrages plausibel ist. Wenn Gott die Beziehung zu seinem Volk als Ehe beschreibt (Hesekiel u. a.), ist und bleiben Gott und sein Volk unterschiedlich und nicht austauschbar. Und so ist es auch in der Offenbarung: Jesus ist der Bräutigam und die Gemeinde die Braut. Für Shaw ist dies ein trostvolles und kraftvolles Argument, seinen Weg der Enthaltsamkeit zu leben. „Die ganze Menschheitsgeschichte ist bloß der Weg zum Altar!“ (117). Und bei diesem Hochzeitsfest heiratet dann auch er!

Auf Seite 187 werden theologische und seelsorgerliche Literaturempfehlungen genannt. Die knapp 60 Fußnoten mit Quellenangaben, Erklärungen, weiterführenden Informationen auf Webseiten oder in Büchern befinden sich im Anhang des Buches (188–192). Ein verständlich geschriebenes, klar strukturiertes und zum Nachdenken anregendes Buch. Es gibt wertvolle geistliche Impulse für die christliche Gemeindekultur und ein auf Christus ausgerichtetes Leben, auch unabhängig von der sexuellen Orientierung und auch auf andere Lebensbereiche anwendbar. Ein „Comingout“, das Respekt verdient und gehört werden sollte.


Michael Schwantge, Gemeinschaftspastor in Oppenheim